Heimatbilder – 801 Jahre Bielefeld

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1. Vielfalt, Eigenart und Schönheit

Die Bewertung der Landschaftsbildqualität in den unterschiedlichen Erlebnisräumen des Planungsgebietes der A33, hier die Reiherbachbrücke im Naturschutzgebiet Schwarzer Venn, erfolgte in der Umweltverträglichkeitsstudie anhand der Parameter Vielfalt, Eigenart und Schönheit.

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2. Ein Ort der Menschlichkeit und Hochleistungsmedizin

2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 1.300 Betten, fast 47.000 stationäre und über 100.000 ambulante Patienten pro Jahr, 31 Kliniken und Institute sowie etwa 160 Auszubildende: das Klinikum Bielefeld Mitte.

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3. 901 mm Niederschlag je Jahr

Ganzjährig herrscht in Sennestadt ein feuchtes Klima mit relativ gleich verteilten Niederschlägen vor. Insgesamt fallen im deutschen Mittel 700 mm je Jahr.

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4. Einer von etwa 300

In Bielefeld steht einer von etwa 300 MediaMärkten bundesweit. Die Slogans sind zum Beispiel: „Ich bin doch nicht blöd!“ oder auch „Saubillig und noch viel mehr“.

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5. „Das war ein anderer.“

Der vom Dienst suspendierte Polizist Jochen O. (Name geändert) sagte in einer Verhandlung vor dem Landgericht Bielefeld im Frühjahr 2015, wo sich der zum Tatzeitpunkt Alkoholisierte wegen eines Raubüberfalls auf einen Kiosk im Bielefelder Westen verantworten musste: „Das war ein anderer. Mein Körper war da, mein Geist nicht“.

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6. Urnen im Erdreich

Auf dem Bielefelder Nicolaifriedhof kann die Asche von Verstorbenen seit 2012 in Urnen im Erdreich nahe eines Baumes anonym bestattet werden. Zur Auswahl stehen: Eiche, Lärche, Zierapfel, Robinie und Weißdorn.

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7. Hemdchenbeutel

Plastiktüten werden im Bielefelder Lebensmitteleinzelhandel beim Verkauf von unverpacktem Obst und Gemüse als Hemdchenbeutel sowie zur Verpackung lose verkaufter Backwaren zur Verfügung gestellt.

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8. Nur montags, Heiligabend und Silvester geschlossen

Die Kunsthalle (ehemals Richard-Kaselowsky-Haus) ist ein Ausstellungshaus für moderne und zeitgenössische Kunst in Bielefeld.

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9. Graffitti

Teils eingeritzt, teils mit Filzstiften aufgetragen, kann man auf der Aussichtsplattform Lutterquelle am 3. August 2013, 16.15 Uhr Folgendes lesen: IHR BLÖDEN SCHEISSKANACKEN, Rana (Herz), Laura (Herz), Enes (Herz), Gürke (Herz) ALLAHIM (Penis), Ailemi Kuruhu, Ömer (Herz), Ugur, HAKAN, IBO, DUMME TÜRKEN!

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10. Mediale Erscheinung

Der Musiker Pitti Weidenhof (NULLZWO) lebt in Bielefeld und tritt ausschließlich medial in Erscheinung.

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11. 3.200 qm

Der Skatepark Kesselbrink wurde nach 2-jähriger Bauzeit im Juni 2013 eröffnet und wird vom Turn- und Sportverein Einigkeit 1890 Bielefeld (TSVE) betreut.

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12. November

In jedem Jahr wird im November vor dem Neuen Rathaus ein Weihnachtsbaum aufgestellt.

Begleitend zur Ausstellung verfasste Prof. Dr. Anna Zika, Professorin an der FH Bielefeld Fachbereich Gestaltung, einen Text mit dem Titel:

Heimat? Welche Sterne?

Persönliches zu einem schwierigen Thema

Am 19. Januar 1945 schrieb die Mutter meiner Mutter ein einziges Wort in ihr Tagebuch: „Gepackt“. Die Familie rüstete damals nicht etwa zu einer Reise in den Wintersport, sondern zu einer Reise ohne Wiederkehr. Diese Reise führte durch Schnee und über Eis. Auf allen Vieren krochen meine damals fünfjährige Mutter und ihre Eltern über das zugefrorene „Frische Haff“, fuhren dann, wie Zehntausende weitere Ostpreußen, mit umfunktionierten Transportschiffen nach Dänemark, wo sie fast drei Jahre in einem Internierungslager verbrachten. Ende 1947 kamen sie in Westdeutschland an. Ich bin fast sicher, daß weder meine Großmutter, noch meine Mutter jemals das Wort „Heimat“ gebraucht haben. Weder als Ausdruck der Erinnerung an das „Land der dunklen Wälder“ noch als Sinn für die neue Existenz in einer Kleinstadt in Nordrheinwestfalen. Meine Mutter fühlt sich noch heute dort fremd und unwohl, wo sie geheiratet und mich zur Welt gebracht hat.

Meine andere Großmutter wurde in Ostpolen geboren. Das Dorf gibt es heute nicht mehr, einige Kilometer weiter verläuft die Grenze zur Ukraine. Ihre Familie wanderte nach Deutschland aus, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Das fand sie dort aber nicht. Im NS-Staat war meine Großmutter „der dreckige Polack“. Hätte mein (westdeutscher) Großvater sie nicht geheiratet, wäre sie wahrscheinlich deportiert worden. Auch diese Großmutter war wenig geeignet, mir beizubringen, was „Heimat“ ist, und mein Großvater hat wenig geredet. Ich bin also möglicherweise nicht die Richtige, um mich gehaltvoll zu „Heimat“ zu äußern. Allerdings erkenne ich Bilder, wenn ich welche sehe.

Ich betrachte die „Heimatbilder“ von Marcus Wildelau und ich betrachte mich dabei selbst, wie ich diese Bilder betrachte.

In Bielefeld arbeite ich seit 2001, und die meisten der Motive, die Marcus Wildelau fotografierte, sind mir aus eigener Anschauung bekannt. Einen Teil des Streckenabschnitts Hamm-Minden fahre ich jede Woche, und allein in der August-Bebel-Straße hatte ich nacheinander zwei meiner bisher insgesamt sechs Zweitwohnungen. Sie sehen schon, das will hier nicht so richtig meine „Heimat“ werden. Vielleicht denke ich deshalb immer wieder über diesen Begriff (und über Bielefeld) nach. Und es sind die Bilder von Marcus Wildelau, die mich erneut und ganz besonders dazu veranlassen: Disparat wirken die visuellen Eindrücke einzelner Orte, wie Flecken im Bewusstsein, wie Zutaten, zu denen mir auf Anhieb kein Gericht einfällt, wie Steine aus verschiedenen Steinbrüchen, aufgesammelt und zu nichts zusammengesetzt. Oder doch? Besteht Heimat vielleicht überhaupt nur aus lauter Versatzstücken? Oder aus diesen „gemischten Gefühlen“ („hier fühle ich mich gut“, „diesen Ort mag ich ganz besonders, weil…“, „diese Ecke hasste ich schon immer“)? Oder aus Versatzstücken UND den gemischten Gefühlen? Ist „Heimat“ eine Empfindung oder ein Wissen? Etwa: wenn ich dahin gehe (z.B. in eine gewisse Eckkneipe, in der ich meistens den „Vorspeisen-Teller“ bestelle), wird mir warm ums Herz und wohl im Bauch werden? Ich weiß, daß ich das dann fühlen werde. Ist „Heimat“ dieses Zutrauen in das Gelingen eines Aufenthalts oder einer Anwesenheit? Braucht „Heimat“ die Spuren solcher Anwesenheit (z.B. als Graffiti), damit wir sie wiedererkennen („Hier war ich schon einmal“)? Ein Wiedererkennen etwa, wie die Bilder von Marcus Wildelau es vermutlich bei Allen auslösen, die sie betrachten (einschließlich der „gemischten Gefühle“)?

Diesen Text schreibe ich im Urlaub, in einem Land, dessen Sprache ich kaum spreche. Ich bin schon zum dritten Mal hier und weiß, wo schöne Badestellen sind, und wo im Supermarkt die glutenfreien Produkte stehen. Das Haus und vor allem den verwilderten Garten dahinter mag ich sehr. Hier lese ich am liebsten. Eine zweite „Heimat“? Oder gar eine Dritte? Wie viele kann man überhaupt haben? Werde ich „heim“fahren, wenn der Urlaub in einer Woche vorbei ist?

Vielleicht stellen sich auf dieser Fahrt bereits wieder innere bzw. gedankliche Bilder von Bielefeld ein, Bilder die denen von Marcus Wildelau ähneln werden. Und vielleicht vermischt sich dann bereits meine Erinnerung an seine Bilder mit meinen eigenen Eindrücken, die ich abgespeichert habe. Irgendwann später kann ich das sicher gar nicht mehr auseinanderhalten. Und werde mich wieder und immer erneut fragen, was Heimat eigentlich ist. Und irgendwann fühle ich es vielleicht auch. Oder ich fühle, was es ganz sicher nicht ist. In jedem Fall trüge dann Marcus Wildelaus Arbeit ihren Titel zurecht.

Anna Zika, Mézos, August 2015

Herzlichen Glückwunsch!

Zum 801. Geburtstag der Stadt Bielefeld, in der ich zur Zeit lebe und die ich als meine Wahlheimat betrachte, erstellte ich einen Heimatbildband. Meine These lautete: „Für jede andere kleine Großstadt Deutschlands würden Heimatbilder genauso aussehen, nur eben anders.“

In einer Zeit, in der alle öffentlichen Veranstaltungen zu Events ohne Ecken und Kanten werden, erscheint es mir sinnvoll, zum 800. Jubiläum der Stadt eine subversive Bilderstrecke mit begleitenden Texten anzufertigen, die Profanes und Historisches gleichermaßen thematisiert. Auf eine Idealisierung von Heimatmotiven unter idyllischen Gesichtspunkten wurde verzichtet.

Die alltäglichen Motive und die nüchternen Texte ziehen ihr fiktionales Potential aus der Realität. Schließlich sind sie es, denen der Künstler im Gegensatz zu Akteuren des Eventmarketing ganz und gar vertraut.

Die Ausstellung „801 Jahre Bielefeld – Heimatbilder“ fand vom 10.09.2015 – 22.10.2015 im Bunker Ulmenwall in Bielefeld statt.

Besonders freut mich der Text „Heimat? Welche Sterne?“, den Prof. Dr. Anna Zika, meine ehemalige Professorin am Fachbereich Gestaltung der FH Bielefeld, der Ausstellung beisteuerte.

Die Farbdrucke im Format 105x85cm werden in dunkelbraunen Kirschholzrahmen mit Schattenfuge präsentiert.
Zur Aufnahme wurde eine analoge Pentax 6×7 Mittelformatkamera mit 75mm Shift Optik verwendet, die mit dem Kodak Portra 160 geladen war.
Alle Bilder wurden am Rechner nachbearbeitet und retouchiert. Die Ausstellung umfasst 12 Prints.

Konzept und Technik der „Heimatbilder“

Das Konzept der Serie war, meine Motive mittels Betrachtung eines Heimatsuchenden zu erschließen und fotografisch zu erschaffen.

Die Betrachtung geht der Fotografie voraus, indem ich das Bild entdecke, antizipiere und im Sucher gestalte. Bilder werden geschaffen, nicht gefunden. Die Ruhe meiner meist unbeweglichen Motive verstand ich als Aufforderung, sie auch in der Fotografie zu zeigen. Ich verwendete ein 75mm Shiftobjektiv, um mich formal und optisch auf Augenhöhe mit den Gebäuden, Bäumen und Wesen zu bringen, die ich ablichtete. Das Shiftobjektiv ist praktisch das technisch-ästhetische Herzstück dieser Reihe. Die Abbildung wird durch gerade Linien zum Plateau, zur kontrollierten Form. Ich sehe weder auf, noch sehe ich auf das Motiv herab. Ich betrachte es. Mein Blick, dem die Haltung von unaufgeregter und selbstbestimmter Neugierde zugrunde liegt, wird technisch rekapituliert und somit bin ich als Betrachter mit meinen immer viel größeren Originalmotiven auf Augenhöhe. Es klingt vielleicht banal, aber dies ist in seiner weitreichenden Wirkung auch ein transzendierender Moment für alle späteren Betrachter des Bildes, die ich durch Verzicht auf effekthaschende Unter- oder Aufsicht in eine privilegierte Position bringe: in einen Schwebezustand vor dem Bild.

Neben der Technik ist der Zeitpunkt der Fotografie von entscheidender Bedeutung. Ich lasse das Licht erzählen. Die Sonne war meine einzige Lichtquelle. Das heißt im besten Fall: Man hat Glück und kann das Foto flott machen, weil alles passt. Es kommt aber auch vor, dass Licht oder Aufnahmezeitpunkt nicht sofort passen. Dann muss ich warten oder später noch einmal wiederkommen.

Die Nachbearbeitung der Bilder ist von entscheidender Bedeutung. Ein unbearbeitetes Bild ist wie ein ungemischter Song: von großem Potential aber unerträglich unfertig.

Das Colorgrading folgt meinem Interesse, eine Stimmung durch gezieltes Weglassen von Farbe oder Information herauszuarbeiten.

Heimatbilder Residences

Heimatbilder off the record