Zauber und Gegenzauber

Begleitend zur Ausstellung „Post Digital Work” der Studienrichtung DMX (Digital Media and Experiment) des Fachbereichs Gestaltung der Hochschule Bielefeld, die ich gemeinsam mit Prof. Claudia Rohrmoser kuratieren durfte, entstand dieser Essay.

Zauber und Gegenzauber – von Marcus Wildelau

„Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.” 1

Meine erste bewusste Begegnung mit dem Internet hatte ich 1995 als junger Fotostudent in Bielefeld. Mein damaliger Mitbewohner, ein Student der Soziologie, nahm mich mit in die Universität, wo einer der ersten Server in der Region stand. An einem Rechner in der Bibliothek starteten wir aufgeregt den Browser. Mein Mitbewohner tippte eine Adresse ein, die ihm ein Freund empfohlen hatte. Wir landeten auf der Homepage der Biologie-Fakultät einer nordamerikanischen Universität. Es wurden gerade Frösche präpariert. Mit nach hinten gebundenen Extremitäten lagen die bleichen Lurche betäubt vor einem technischen Auge auf dem Rücken, sowohl ihrer natürlichen, amphibischen Freiheit als auch ihrer spezifischen Agilität beraubt, ganz wie gekreuzigte, anthropomorphe Märtyrer aus einer anderen, uralten, analogen, magischen Vorzeit stammend, einer Welt der Geheimnisse, einer Welt ohne Elektronik und High-Tech, die, wie es nun schien, wir irgendwie gemeinsam verlassen würden. Diese Frösche arbeiteten ganz offenbar als Sklaven in den Laboren der amerikanischen Uni, Animal Workers, ohne Rechte, ohne Fürsprecher und Fürsprecherinnen, ohne Aussicht, mit dem Leben davonzukommen – kurz: zu denkbar ungünstigen Konditionen. Reduziert auf ihre Körper, wurden sie wissenschaftlich zum Ding entzaubert und von einer Webcam zum Bild verzaubert und gaben dann als zweidimensionaler Bitstream ihr bereits hinreichend bekanntes Inneres preis, nur damit auch ich es sehen konnte.

Verstört und gebannt folgten wir diesem neuen, heißen Scheiss aus Amerika, beobachteten Zeile für Zeile der sich wie in Zeitlupe aufbauenden „Livebilder” und erlebten den Moment, in dem die Digitalisierung Einzug in unser Leben nahm.

New Base - post digital work Symbolbild

Die Bilderverehrung unserer profanierten Gesellschaft hat nun zu sog. Post labor – Zeiten, also Zeiten, in denen die Digitalisierung nicht mehr durch ihre An-, sondern eher durch ihre Abwesenheit bemerkt wird, quasi religiöse Züge angenommen und ähnelt einer Idolatrie. Sowohl klassische Fotografien als auch KI-generierte Bilder sind immer Inszenierungen, erzeugen Realitäten und verändern uns und unseren Blick auf die Welt durch ihr Storytelling. Bilder, ob sie nun von Profis stammen oder von Dilettanten und Dilettantinnen, sind immer ikonologisch verschlüsselt und am besten im Kontext der Zeit ihrer Entstehung zu lesen und zu verstehen, weil sie immer auch die Gesellschaft preisgeben, in der sie und für die sie erschaffen worden sind.

Ein Bild von einem Bild, ein Reenactment etwa, ist zugleich ein eigenständiges Bild, ein Zitat der Realität, eine Metapher, eine Projektion und eine sichtbare Vorstellung.

Automobile Bildfahrzeuge” nannte der Hamburger Kunsthistoriker Aby Warburg in den 1920er Jahren Bildmotive, die sich eigenständig durch Raum und Zeit bewegen und uns auf verschiedenen Trägern an verschiedenen Orten begegnen, also eine Art Eigenleben führen. So wurden etwa in der Renaissance-Malerei Bildformeln aus der Antike wiederentdeckt, zitiert und weiterentwickelt.

Ein besonderes automobiles Bildfahrzeug waren und sind die sog. Tableaux Vivants: Nachinszenierungen von Gemälden, lebende Bilder von Bildern, die sich vor allem in höfischen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuten und wie eine Art stilles Theater aufgeführt wurden. Die Mis-en-scène einer Anordnung schafft darin die performative Grundlage, aus der ein Bild in ihr und durch sie sichtbar wird, d.h.: erscheint. Dieser Gestaltungsprozess erinnert an magische Praktiken, indem ein Bild in einer Gruppe von Menschen heraufbeschworen wird. In seiner Dialektik von Belebung und Erstarrung reist etwa das ikonische Motiv des letzten Abendmahls von Leonardo Davinci – um 1500 als Wandgemälde entstanden – durch über 500 Jahre Kulturgeschichte, um im Jahre 2025 in neuem Kontext als Zitat und Chronoferenz hier in der Ausstellung zu erscheinen. Chronoferenzen sind die Möglichkeiten einer Gegenwart, sich auf vergangene Zeiten zu beziehen. So tragen die Figuren auf dem Tableau Vivant „Das letzte Meeting” Businesskleidung aus dem 21. Jahrhundert und es befinden sich statt Brot und Wein Laptops und Energy Drinks vor ihnen auf den Tischen.

das letzte Abendmahl, Tableau Vivant, Reenactment, Fotokunst

Es sind außerdem die Studierenden selbst, die sich auf den Tableaux Vivants abbilden und damit dem Vorbild einer künstlerischen Praxis folgen. Maler und Malerinnen vergangener Jahrhunderte bauten häufig sich oder befreundete Künstler und Künstlerinnen etwa in Historiengemälde ein, wiesen ihnen Charaktere zu und erschienen so als maskierte diegetische Zeugen der dargestellten Szenen sowie ihrer eigenen Kunst. Ein inspirierendes Oszilieren findet sich bei den Tableaux Vivants in der simultanen Bildwerdung der Menschen und einer Menschwerdung der Bilder.

Alle Apparate (nicht erst Computer) sind Rechenmaschinen und in diesem Sinne ›künstliche Intelligenzen‹, auch schon die Kamera, obwohl sich ihre Erfinder nicht Rechenschaft davon ablegen konnten. In allen Apparaten (auch schon in der Kamera) gewinnt das Zahlendenken Oberhand über das lineare, historische Denken.” 2

Menschen sind seit jeher fasziniert von Automaten, von künstlichen Lebewesen, wie bereits Ovid in den Metamorphosen erzählt: Der Künstler Pygmalion erschuf die Statue einer Frau, verliebte sich in sie und ließ sie mit Hilfe der Göttin Venus, also mit der Kraft seiner Liebe, lebendig werden. In Ovids Text heißt es: „Ars adeo latet arte sua.” („So sehr verbirgt sich Kunst in der eigenen Kunst”). Das soll bedeuten, dass die Lebensechtheit der Figur durch geschickte Mimesis erreicht wurde, also nach ihrer Herstellung durch den Künstler, der dem Primat der Nachahmung der Natur folgte, nicht als Kunst, sondern als Teil der Realität gelesen werden konnte oder anders gesagt, dass die Kunst von der Kunstfertigkeit der Nachahmung so vortrefflich verhüllt gewesen sei, dass sie die Betrachter faszinierte und entzückte, als sei sie Realität.

Spielerisch die Welt zu erfassen, sie zu erforschen und nachzuempfinden, um sie schließlich schöpferisch zu beleben und kreativ neu zu erzählen ist gestalterische, ist künstlerische Arbeit. In unserer Gesellschaft wird das Spiel nicht als Arbeit gelesen und die Arbeit nicht als Spiel. Kreativität ist oft nur ein Wort, aber für Gestalter und Gestalterinnen der Kern des eigenen Schaffens. Die Arbeit wird zur Aufgabe, zur Lebensaufgabe, denn oft sind Gestalter und Gestalterinnen nicht die, die sich die Kunst oder das Design als Berufsfeld aussuchen, sondern die von Kunst und Design ausgesucht werden. Fotos, Installationen, Malerei, Filme, Musik – diese künstlerischen Sparten werden von den meisten Menschen mit Freizeit und Vergnügungen konnotiert, während es für Gestalterinnen und Gestalter, für Künstlerinnen und Künstler harte Arbeit bei oft geringen Budgets bedeutet. Und häufig werden die Prozesse von Forschung, Kreativität und Schöpfung von Stress, Verzweiflung und Erschöpfung begleitet.

So verführerisch die scheinbaren Vorteile der Digitalisierung für die Beschleunigung und Effizienzsteigerung vieler Abläufe in unserem Alltag sind, müssen wir, die modernen Zauberlehrlinge, aufpassen: Maschinelles Lernen und die Kybernetik zahlenbasierter, autopoietischer Systeme haben inzwischen eine Dynamik angenommen, die uns ins Grübeln und ins Zweifeln bringen darf, ob wir die Geister, die wir gerufen haben, noch beherrschen können oder ob sie uns beherrschen. In vorindustriellen Zeiten der Arbeit war der Mensch die Konstante und die Maschine die Variable. Heute ist die Maschine die Konstante und der Mensch wird zur Variablen.
Den ambivalenten Pakt, den Menschen und Maschinen schließen, untersucht übrigens Maik Schneiker in seinem Film OhNeinDieRoboter”.

Man arbeitet nicht mehr, um einen Wert zu verwirklichen, und auch nicht mehr, um eine Wirklichkeit zu verwerten, sondern man funktioniert als Funktionär einer Funktion. Diese absurde Geste kann nicht ohne eine Betrachtung der Maschine verstanden werden, dann tatsächlich funktioniert man als Funktion einer Maschine, die als Funktion des Funktionärs funktioniert, der wiederum als Funktion eines Apparates funktioniert, welcher als Funktion seiner selbst funktioniert.” 3

Im Jahre 1966 entwickelte der deutsch-amerikanische Informatiker und spätere Gesellschaftskritiker Joseph Weizenbaum den ersten Chatbot in der Geschichte der Informatik mit dem Namen Eliza. Das Computerprogramm konnte über verschiedene Scripte Gespräche führen, u.a. konnte es über das Script DOCTOR einen Psychotherapeuten simulieren und eine Art Gesprächstherapie vornehmen. Mit Erschütterung stellte Weizenbaum fest, wie schnell Menschen dem Chatbot persönliche Dinge anvertrauten und glaubten, in ihm menschliche Fähigkeiten und auch Einfühlungsvermögen zu erkennen. Es war für sie scheinbar nicht wichtig, dass sie mit einer Maschine interagierten, es war nur wichtig, dass die Fragen und Antworten menschlich erschienen. Dies schließlich wurde Eliza-Effekt genannt. Der Chatbot sollte zu einem Meilenstein in der KI-Forschung werden. Heute stellen Studien fest, dass viele Menschen finden, dass ChatGPT bessere psychotherapeutische Fähigkeiten hat als menschliche Psychotherapeuten und -therapeutinnen.

Texte, die der Maschine unsere Gedanken und Formulierungen, unseren Stil verraten, helfen ihr, Bedeutungen und Relevanz zu generieren und ihre Programmierung zu erfüllen, uns nachzuahmen und schließlich mit Zifferncodes zu maskieren und zu ersetzen. Das konnten Maschinen schon immer gut, besser sein als wir. Vielleicht werden sie sogar einmal die besseren Menschen sein, so wie in Blade Runner, weil sie ihrer Programmierung so konsequent folgen. Wir Menschen blicken inzwischen auf schillernde Displays, auf denen sich ein Spielgrund digitaler Mimesis auftut, ein Second Life Drama mit algorithmischen Attrappen, das uns wie eine Handpuppe beim Psychiater die Geschichte unserer Sehnsüchte, unserer Defizite, unserer Träume und unserer Albräume erzählt. Manchmal merken wir das nicht einmal oder viel zu spät. Die Arbeit von Charlotte Sülflohn „Say ,you love me!” beschäftigt sich mit einem ganz ähnlichen Szenario.

Evolution braucht Störungen, braucht Defekte und Zufälle, damit es mit etwas Neuem weitergeht. Künstliche Intelligenz hingegen durchsucht das Internet und rekombiniert all das, was es schon gibt. Kann man das erfinderisch nennen oder kreativ? Es sind Berechnungen, die auf Datenmaterial unserer Vergangenheit basieren. „Die künstliche Intelligenz immunisiert das Gegebene gegen seine Erneuerung”, hörte ich kürzlich in einem Podcast. Von welcher Zukunft kann uns denn dann Post-Digital erzählen? Schauen Sie sich den Film „Remote Horizons” von Carlo Seemann an – vielleicht gibt es ja für uns Menschen irgendwann nur noch Jobs in der Facility großer Rechenzentren. Irgendwo müssen wir Menschen doch in Zukunft arbeiten.

Die Technologische Singularität ist ein theoretisches Szenario, in dem technologisches Wachstum unkontrollierbar und unumkehrbar wird und in tiefgreifenden und unvorhersehbaren Veränderungen der menschlichen Zivilisation gipfelt.” 4

Trends erzeugen immer Gegentrends. Die technologische Singularität der Maschinen wird begleitet werden von der Transformation der menschlichen Gesellschaft. Werden wir ein nachhaltigeres, eigenverantwortlicheres Leben führen wollen? Widerstand wird sich zu regen beginnen. Wenn ich meine Bank anrufe, dann mache ich inzwischen Folgendes: Ich sage nichts. Ich warte. Die KI-Stimme spricht mit mir: „Ich habe Sie nicht verstanden. Bitte wiederholen Sie Ihr Anliegen!” Ich schweige weiter. „Ich habe Sie nicht verstanden! Bitte drücken Sie die Raute-Taste! Bitte drücke Sie die Stern-Taste!” Ich schweige und drücke nichts. Auch die KI schweigt dann irgendwann und sagt: „Sie werden mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden.” „Danke”, denke ich. „Wieder einen Arbeitsplatz gerettet…”

Seit Jahrhunderten folgen wir einem Traum, der mit dem Glauben an den Fortschritt in der Neuzeit begann: die Menschen von Arbeit zu befreien, indem Maschinen erfunden werden, die der Menschheit als Sklaven dienen sollen. Aus diesem Traum sollten wir erwachen, weil wir im Begriff sind, die Sklaven der Maschinen zu werden. Wir müssen lernen, im Umgang mit Maschinen so entschlossen wie Maschinen zu sein, indem wir unser Ding machen und Verantwortung nicht einfach an Computer übertragen. Freiheit erreichen wir dann, wenn wir Eigenverantwortung und die damit einhergehende Arbeit nicht scheuen.

In der Post Digital Work – Ära gibt es weniger Entweder-oders, sondern eher Sowohl-als-auchs. Wer künftig in einem Internet der Dinge leben will und etwa mit seiner smarten Outdoorjacke über die regionale Wettervorhersage diskutieren möchte, wird dies bestimmt tun können. Und wer das nicht will, darf sich nicht von den Apparaten und ihren FunktionärInnen manipulieren, steuern und entzaubern lassen wie Frösche im Labor, sondern muss seinen Gegenzauber finden: Eigenverantwortlichkeit, Individualität, kritisches Denkvermögen, Humor, Diversität, Selbstwirksamkeit, auf die innere Stimme hören, denn sie hat immer recht, den Körper respektieren, Ressourcen schonen, Nein-sagen-können zu ChatGPT und virtuellen Vereinsamungsapparaten, Reskilling und Repairing entdecken und die Arbeit, die man vielleicht dadurch hat, als Garant für die eigene Freiheit wertschätzen lernen. Und das Wichtigste: Wir sollten keinen Chatbot, sondern einen Menschen zum Teilen finden, den man lieben kann und der oder die mit dem Herzen genauso ALL-IN geht, wie wir selbst. Das können Maschinen nicht. Dann gehören wir der Welt und die Welt uns und wir beginnen, sie zu gestalten und dadurch füreinander zu erhalten. Hoffentlich achtsam.

Was 2009 als IKEA Effekt bekannt wurde, soll Tim Allen alias Tim Taylor in der amerikanischen Vorabendserie „Home Improvement bzw. Tool time” schon in den 1990ern gesagt haben: „Nur was man selbst gebaut hat, gehört einem auch wirklich.”

1 Arthur C. Clarke, 3. Clarksches Gesetz, Hazards of Prophecy: The Failure of Imagination, 1973.

2 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, S. 29.

3 Vilém Flusser, Gesten, 1994, S. 24.

4 https://www.ibm.com/de-de/think/topics/technological-singularity

Fotos: Sebastian Krampe, Joaquin Alaaddin Avciogullari