Essay – Publikation

Foto: Ulrich Haufe

Für den Katalog der Fotoausstellung „…am Anfang war Einbeck – Straßenfotografie der 70er Jahre” des Filmemachers und Fotografen Ulrich Haufe schrieb ich einen Essay.

NON-STOP-SUPER-SHOW 

Zu den Fotografien von Ulrich Haufe
Von Marcus Wildelau

Drehen wir die Zeit ein halbes Jahrhundert zurück. 1972. Wir wollen uns kurz einstimmen: Führende Mitglieder der Rote Armee Fraktion werden nach einer Schießerei in Frankfurt festgenommen. Die Raumsonde Pioneer 10 mit der berühmten Plakette, auf der ein nacktes Menschenpaar die galaktische Position unseres Planeten (hoffentlich ausschließlich freundlichen Außerirdischen) in Binärcodes verrät, startet in Florida und hat, so weit wir wissen, mittlerweile unser Sonnensystem verlassen. „Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit” erscheint erstmalig und konfrontiert dieselbe mit den Auswirkungen ihrer Ressourcenverschwendung und Überbevölkerung, während der 18-jährige Ulrich Haufe bereits seit etwa zwei Jahren mit seiner Spiegelreflexkamera Asahi Pentax Spotmatic II das Leben in seiner Heimatstadt Einbeck dokumentiert.

Man hat vor 50 Jahren eindeutig mehr Hüte getragen als heute. Doch die altmodischen Deckel, Dohlen und Dunstkiepen sind Anfang der 1970er Jahre bereits im Verschwinden begriffen. Die Jugend braucht Freiheit für ihre Frisuren. Man emanzipiert sich, grenzt sich gegenüber den Alten ab. Es ist die Zeit der großen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen, der aufkommenden Umweltbewegung und der Ideen von antiautoritärer Erziehung und sexueller Revolution. Die Fotografie erlebt in dieser Epoche international eine Aufwertung zur Kunstform und kann in der Disziplin des sozialdokumentarischen Bildjournalismus' den Menschen in seiner Beziehung zur Welt neu zeigen und den Blick auf Gesellschaft und Individualität nachhaltig verändern. Vor allem bei der Jugend herrscht ein neues Lebensgefühl vor und ist, wenn vielleicht auch in schwächerer seismografischer Ausprägung als in den Metropolen, ebenfalls in der niedersächsischen Provinz spür- und sichtbar.

„Vor allem sehnte ich mich danach, in den Grenzen einer einzigen Fotografie das Wesen eines Vorgangs einzufangen, der sich vor meinen Augen abspielte.“
Henri Cartier-Bresson

Schnell erkennt man, was Ulrich Haufe an der Fotografie reizt. Er beobachtet Menschen im öffentlichen Raum und portraitiert sie im Alltag. Stets behutsam, nie konfrontativ oder aufdringlich. Haufe benutzt ein Normal- und ein leichtes Teleobjektiv und kann so etwas Abstand zwischen sich und die Leute bringen. Ein wesentliches Charakteristikum seiner Bildsprache ist der Kontrast. Das gilt thematisch wie ästhetisch. Stets scheint der Fotograf Gegenteiliges in Juxtapositionen zu entdecken. Seine Bildausschnitte erschaffen eine visuelle Wirklichkeit, die nicht etwa Realität abbildet, wie man es oft Vertretern und Vertreterinnen der dokumentarischen Fotografie unterstellt, sondern eine Neuordnung von Formen, Mustern und Motiven vornimmt, bei der wir innerhalb des Bildrahmens Bezüge und Verweise des Abgebildeten auf sich selbst entdecken können. Plötzlich interagiert ein auf einer Bank sitzender, alter Mann (mit Hut), der seine Aktentasche neben sich gelegt hat, scheinbar mit den ihn umgebenden Waschbetonwänden, die für Fortschritt und Funktionalität stehen. In der Realität sitzt er womöglich nur einfach so da, in sich gekehrt, ruhend mit gefalteten Händen, möglicherweise inmitten anderer Menschen auf diesem Platz. Auf der Fotografie bezieht er allerdings eine isolierte Position und wird dort zum Blickfang, zum Fremdkörper. Er befindet sich in einer ringsum undurchdringlich vertäfelten Welt, wie auch die zweite Lebensform auf diesem Bild, die Stiefmütterchen im betonierten Hochbeet ein paar Meter hinter ihm. Ein Mann am Ende seines Arbeitstages, vielleicht am Ende seines Berufslebens, der für einen Moment ohne Funktion in einer ansonsten überwiegend funktionalen Umgebung verweilt.

Die stille Kraft in den Fotografien Haufes geht von ihrer Nüchternheit aus. Selbst beim Anblick von Hochprozentigem. Eine Auslage von Spirituosen wirkt wie eine Devotionaliensammlung, präsentiert wie auf einem Altar der anonymen Glaubensgemeinschaft an die segensbringende Wirkung des Alkohols. Verführung, Belohnung, Rausch und Zerstörung - wieder Kontraste, wieder ein Nebeneinander von Gegensätzen, in welchem manchmal ein subtiler Humor am Werke zu sein scheint.

Passt Folgendes tatsächlich in ein Bild? Ein Schaufenster mit meterweise Weinbrandflaschen, daneben eine ältere Frau, die einen Kinderwagen schiebt und auf einem über ihr angebrachten Plakat mit zwei nackten Menschen - sie ein Blas-, er ein Streichinstrument haltend, beide lächelnd - mühsam den Schriftzug „Play Love” entziffert. Wäre dieses Foto ein Gemälde, es wäre die allegorische Darstellung der Tugend der Temperantia, des rechten Maßhaltens in aller Deutlichkeit: Der überall lauernden Gefahr der bacchischen Verführung und Ausschweifung bei Wein und Gesang hat man sich tunlichst zu widersetzen!
Andernorts bestaunen Männer (wieder alt, wieder mit Hut) Auslagen voller Erotikzeitschriften. Ungläubig starren sie auf die provozierenden Abbildungen nackter Leiber, um in diesem Moment selbst zum Bild der auf Bilder Starrenden zu werden.

Ulrich Haufe interessiert sich für scheinbar banale Szenen und erkennt intuitiv das situativ bedingte Staging, das bei größter Absichtslosigkeit aller daran im Bild Beteiligten entsteht. Sein Interesse, diese Szenen nicht zu stören, erfordert mitunter ein leichtes Teleobjektiv. Haufe befindet sich dann in der ihn verbergenden Entfernung, studiert so unbemerkt sein Motiv und erhascht für einen Augenblick, seine spätere Tätigkeit als Naturfilmer bereits hier in Grundzügen vorwegnehmend, ein Bild dieser bereits seltener werdenden, ja bedrohten Spezies in ihrem natürlichen Habitat.

„Die Macht der fotografischen Bilder leitet sich ab aus der Tatsache, dass sie unabhängige materielle Realitäten sind, höchst informative Ablagerungen dessen, was sie ausgesendet hat, Mittel, die überaus geeignet sind, den Spieß umzudrehen gegenüber der Realität – das heißt diese Realität zum Schatten zu machen.”
Susan Sontag

Die dokumentarische Schwarzweiss Fotografie ist um 1970 arriviert und modern zugleich. Die Concerned Photographers, ein Begriff der etwa von Magnum Fotograf Cornell Capa geprägt wurde, beanspruchen nicht weniger, als mit ihrer Fotografie die Welt zu verändern, um sie zu einem besseren Ort für Menschen zu machen. Dokumentarische Schwarzweiss Fotografie schafft Betroffenheit, doch erzeugt mit ihrer Verweigerung von Farbe stets auch Abstraktion und geht auf Distanz zum Motiv, zur Realität. Sie ist formal gesehen ausschließlich dem Licht auf der Spur. Irreführend an sich schon ihr Name. Im tiefsten Schwarz wie auch im hellsten Weiss existiert keine Zeichnung. Dabei sind ausschließlich die Tonwerte wichtig, die wir in den Fotografien benötigen, um etwas darauf erkennen zu können. Der Fotograf muss sie mit hoher Materialsensibilität im Moment des Auslösens mittels Belichtung generieren und später im Labor beim Anfertigen der Abzüge versuchen zu erhalten. Der jugendliche Ulrich Haufe, der seine Filme selbst entwickelt, bringt es hier zu früher Meisterschaft. Eine nuancierte Skala von Graustufen, der Kontrastumfang, ist ein Qualitätsmerkmal. Ansel Adams, der große amerikanische Landschaftsfotograf, hatte mit seinem berühmten Zonensystem dieser Erwartung an das Tonwertspektrum eines Prints größte Relevanz eingeräumt und bereits in den 1930er und 1940er Jahren zeitlose Maßstäbe für gelungene Dunkelkammerarbeit gesetzt. Wie gut das AGFA Filmmaterial der 1970er Jahre hinsichtlich Blendenumfang und feinem Korn ist, zeigt sich noch heute in seiner hervorragenden Vergrößerbarkeit.

Die Geste des Fotografierens kann eine höchst auffällige Angelegenheit werden. Mensch und Apparat verwachsen zu einem merkwürdig tänzelnden, zeitweise rückwärts gehenden oder sich linkisch bückenden Wesen und werden schnell zu einem Blickfang. Der ernsthafte Dokumentarfotograf jedoch will am liebsten unsichtbar sein, um den ungestellten Moment, den moment decivif zu greifen und festzuhalten. Doch Tatsache ist, dass seine Anwesenheit unweigerlich Einfluss auf die von ihm vorgefundene Situation nimmt: Ich sehe, ich werde gesehen und ich sehe, dass ich gesehen werde. Ein Spiegelkabinett der Blicke.
Der gesamte technische Vorgang des analogen Fotografierens, also ein Stückchen Zelluloid in der kurzzeitig erhellten Kammer mit Lichtenergie derart zu bestreichen, dass darauf ein latentes Bild entstehen kann, welches inmitten von Silberhalegoniden bis zur Entwicklung unsichtbar verweilen wird, ist, frei nach Arthur C. Clarke, in seiner rätselhaften Technologie nicht von Magie zu unterscheiden. Beherrscht man jedoch diese Abläufe, kann der Fotograf sich auf Motive und Momente konzentrieren. Es geht Ulrich Haufe darum, sein Sehen ins Bild zu überführen.

So wird eine kleine Gruppe Erwachsener, Koffer und Taschen tragend und nur als Umrisse aus dem Schatten einer Unterführung zum Licht tretend, quasi zur Komparserie in einer mythisch anmutenden Alltagsszene. Zwei Kinder und einen Sitzenden, die, formal gegensätzlich inszeniert im Lichtbereich derselben Fotografie einen eigenen Aktionsraum erschließen, erfasst Haufe im rechten Bildteil. Eine zufällige Inszenierung eines Überganges? „The path” von Videokünstler Bill Viola hat die menschliche Elementarerfahrung des Reisens zum Thema. Und das ist scheinbar in diesem Bild in Bahnhofsnähe ganz ähnlich. Die Schattenlinie wie in Joseph Conrads gleichnamigen Roman trennt auch hier Kinder und Erwachsene. Ein Zufall, dass es sich genauso abspielte? Nun, möglicherweise, war es Zufall, dass es sich nicht anders als eben genauso abspielte. Es ist dieser bestimmte Moment, in dem Haufe mit der Kamera eine Bühne für Figuren schafft, die seine Regie nicht spüren.

„Es gibt immer ein erstes Mal. Ein Zauber, der sich Deiner bemächtigt und Dich mit einer neuen Welt bekannt macht, ein beginnendes Abenteuer! Du bist da irgendwie hineingeraten und spürst sehr bald, dass das eine sehr große Sache für Dich werden wird. Eine Sache, die Dich nicht wieder loslässt und die DU nicht wieder loslässt.“
Unbekannt

Besonders eindringlich ist eine kurze dokumentarische Reihe innerhalb der Ausstellung, die das kindliche Spiel und die Erprobung geschlechtsspezifischer Rollen thematisiert. Zuerst fällt auf, dass die Kinder außerhalb des städtischen Betonbereichs agieren, wohl in einem Park oder am Stadtrand. Die Kinder sind unter sich und erleben keine direkte Aufsicht durch Erwachsene. Hier geht Haufe offen auf die Kinder zu, fotografiert sie und wird ins Spiel einbezogen. Er wird Zeuge, wie Jungen und Mädchen ihre natürliche Opposition zum Gegenstand von Begegnungen und Spiegelungen machen. Bis ein Junge mit seinem Spielzeuggewehr schließlich die fotografische Geste Haufes nachahmt, auf ihn anlegt und zu einer Ikone wird, irgendwo zwischen Portrait und Spiegelbild. Sein konzentrierter, kalter Blick ist der eines Jägers. Der Fotograf sieht sich selbst – und drückt ab. Der Junge weiß, dass er in diesem Moment zur Trophäe von Haufe geworden ist. Das bemerken nur wenige! Doch was ist das da in seinem Hosenbund hinter der Gürtelschnalle? Da steckt sie – seine Beute. Und erleichtert stellen wir fest, dass es sich nur um eine Tafel Schokolade handelt.
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