
Ich freue mich über eine weitere Publikation im Katalog zur Ausstellung „Post Digital Work”:
Alte und neue Gesetze der Nachahmung – von Marcus Wildelau
Es ist der vielleicht spannendste Moment in der Erzählung aus dem Lukas Evangelium Kapitel 22, Vers 14 23, den Leonardo Da Vinci für sein Wandgemälde „Das letzte Abendmahl” gewählt hat, der Moment vor dem Moment des Erkennens, der Moment vor Erreichen der Anagnorisis, in dem sich der Verräter zu erkennen geben wird. Die dadurch ausgelöste Peripetie, der schicksalhafte Umschwung der Handlung, die Verhaftung Jesu im Garten Getsemani, steht unmittelbar bevor.
Im Tableau Vivant „Das letzte Meeting” wird dieser Moment in vollkommen neuem Kontext nachgestellt. Die modern gekleideten Figuren vor aufgeklappten Laptops wissen noch nicht, wer für die Implementierung der neuen KI verantwortlich ist, wer den Verrat an den Kollegen und Kolleginnen begangen haben wird. Die kleine Gruppe der Schicksalsgefährten und -gefährtinnen wird von Misstrauen und Angst erschüttert, sie befindet sich in Zerrüttung und schwerem Leid, dem Pathos, weil einer unter ihnen egoistisch und unsozial handelt.
Das Drama inmitten der kleinen Gruppe von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen am Tisch von „Das letzte Meeting” steht für die große Gemeinschaft der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die sich in turbulenten und beängstigenden Zeiten rasender technologischer Entwicklung zu einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammenfinden. Billige KI Technik bedroht und vernichtet Arbeitsplätze, gierige Unternehmer und Unternehmerinnen betreiben Gewinnmaximierung und lösen möglicherweise elementare Umstürze sozialer Gefüge aus und begünstigen das Verschwinden ganzer Branchen, es kommt zu Verminderung von Kaufkraft und Dezimierung von Wohlfahrt. Die Menschen fühlen sich verraten. Hoffnung, Angst und Wut werden gleichzeitig erlebt. Die Figuren im Bild stehen in einer Abhängigkeit zu ihrem Arbeitgeber, der für sie wirtschaftlich und sozial verantwortlich ist und die Mitte des Bildes für sich beansprucht.

Leonardo da Vinci ist 1498 mit dem „Meisterwerk, das keinen Frieden findet” 1 (weil die Verwendung ephemerer Temperafarben bisher häufiges Restaurieren erforderte) ein Erneuerer in der Darstellung der Figuren, die er als Heilige ohne die typischen Attribute und Gloriolen sehr menschlich und nahbar inszeniert, was die um den Tisch versammelte Schar der Jünger wie eine alltägliche Szene in räumlich und perspektivisch naturgetreuer Darstellung zeigt. Leonardo macht bei seiner Interpretation des letzten Abendmahles auch kompositorisch einiges anders als bisherige Künstler. Ein wesentlicher Moment ist die Entscheidung, die verräterische Gestalt des Judas als Figur nicht wie bis dato meist üblich, separiert vor dem Tisch, sondern inmitten der Jünger zu platzieren und somit die Identifizierung entscheidend zu erschweren, was die Spannung im Storytelling erhöht.
Die Renaissance, in der dieses Bild entstanden ist, gibt es als Bezeichnung zu ihrer Zeit noch nicht. Erst Giorgio Vasari entwickelt den Begriff der „Rinascita”, Wiedergeburt, für diese Epoche und macht sie so griffiger und verhandelbar. So wird Vergangenheit zeiträumlich von einer auf sie folgenden Zukunft rückwirkend konstruiert und erschlossen. Kennzeichnend für die Renaissance ist ihr durch die Antike inspiriertes Menschenbild, das das Individuelle, Menschliche in Kontexte von Geschichte, Sprache und Darstellung setzt und dabei den Seelenregungen und der menschlichen Natur besonderes Interesse entgegenbringt. Eine Zeit, in der Wissenschaft und Kunst interagieren wie seit der Antike nicht mehr.
Konkret zeigt Leonardo eine zentrale Figur und zwölf sie umgebende weitere, die in vier kleinen Gruppen zu je drei Personen verschiedene Temperamente und Affekte als Individuen innerhalb der Kleingruppen verkörpern und damit pars pro toto Spannung und Diversität im Werk schaffen. Das menschliche Drama entsteht bei dieser Tischgesellschaft, die im Grunde bis eben noch eine friedliche Gemeinschaft war, im Anschluss an der Prophetie Jesus‘. Misstrauen, Ungläubigkeit, aufbrausender Zorn und Streit über den bevorstehenden Verrat. Liebe, Angst und Abscheu breiten sich in den Köpfen und schließlich Körpern der Jünger als lesbare Affekte aus. Auf den Gesichtern zeigen sich außerdem Empörung und der Schmerz darüber, nicht zu wissen, wer von den Anwesenden der Verräter sein wird und wer von ihnen hingegen der Beste sei. Es ist dieser Pathos, der der Szene ihre Dramatik verleiht.
Die Tatsache, dass die Menschen sich in ihrer sozialpsychologischen Konstitution über einen Zeitraum von 2000 Jahren nicht wesentlich verändert haben, macht sie in der Geschichte zu Konstanten, während Fortschritt, Technologien, Gesellschaftsformen, Arbeitsfelder und Kulturen in ihr zu Variablen werden. Die großen Wandlungen werden durch die steten Anfeindungen und Herausforderungen der äußeren Realität bewirkt, die immer auch für leidenschaftliche Bewegungen des Gemüts sorgen. Mit dem Tableau Vivant „Das letzte Meeting” reisen wir mittels Chronoferenz 2 zunächst in das originale Gemälde der Vergangenheit und treffen dort aber nicht mehr auf Figuren aus der christlichen Urgeschichte, die Leonardo bereits durch seine Inszenierung, sein psychologisch raffiniertes Blocking, zu nahbaren Menschen machte, sondern auf Figuren unserer Gegenwart, die in einem veränderten Lebensumfeld und einem gänzlich anderen, profanen, komplexen Post Digital Work-Szenario agieren aber von den gleichen Ängsten und Wünschen angetrieben werden wie die zwölf Apostel beim letzten Abendmahl. Das Storytelling bleibt konstant anthropozentrisch. „Wenn Gegenwarten sich nicht zuletzt dadurch auszeichnen, sowohl die Differenzen als auch die Referenzen zu abwesenden Zeiten zu organisieren, dann werden diese Relationierungen nicht nur nach dem chronologischen Prinzip organisiert. Bloß weil etwas chronologisch weiter entfernt ist, hat es deswegen nicht weniger Bedeutung für eine Gegenwart.” 3

Mit dem Tableau Vivant, das sich als Aufführungspraxis bei Abendgesellschaften besonders im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreut, werden sowohl figurative Gefüge von Gemälden reinszeniert als auch ihre inhaltlichen Elemente neu geordnet. Es kann zu Reminiszenzen durch Nachahmung bei gleichzeitiger kreativer Neuerfindung kommen.
„Da das Theaterspielen zu den bevorzugten Freizeitaktivitäten des Adels und später des Großbürgertums gehörte, verbreitete sich das Bild bald in der Privatsphäre gebildeter Dilettanten, wie dies Goethe in seinen Wahlverwandschaften (1809) mit weitreichender Breitenwirkung schilderte; gerade dieser Roman führte beispielhaft vor, wie Tableaux Vivants anspielungsreiche Bezüge zu aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Ereignissen ausformulieren können. […] Auffällig ist, inwiefern die Tableaux das kultivierte Gespräch über das Verhältnis von Realität und Illusion, von Vorbild und Abbild, von Original und Nachahnung stimulierten – ganz ähnliche Diskussionen, wie sie später auch die Fotografie etwa über das Verhältnis von technischem Bild und Malerei auslösen sollte.” 4
Das Tableau Vivant wirkt deshalb so reizvoll auf die Betrachtenden, weil die Erstarrung der Körper und Gesichter zur Attitüde gleichzeitig die Verlebendigung eines Bildes aus Körpern bedeutet. Das Reenactment eines Gemäldes oder Bildes führt uns paradoxerweise etwas zugleich Bekanntes und Neues vor Augen. Es ist diese oszillierende Ambiguität des Tableau Vivant, die in der Lage zu sein scheint, Vergängliches, Lebendiges in die Obhut eines unvergänglichen Kunstwerkes zu überführen. Die rekapitulierten Gesten erzählen von den Affekten der beteiligten Charaktere und erzeugen bei empathischen Betrachtern und Betrachterinnen die gleichen Gefühle. Wir können uns darin wiederfinden, uns identifizieren, weil wir dieselben sind. Um nichts Anderes bemühen sich Theater und Film mit stillen und bewegten Bildern. Im Film La Passion von Jean Luc Godhard werden „die bewegenden Bilder der Kunstgeschichte zu »Paradigmen für die Leidenschaften des real gelebten Lebens« und als solche in bewegte (d.h. lebende) Bilder übertragen. Beispielsweise wird ein Tableau nach Goyas Gemälde Erschießung der Aufständischen vom 3.5.1808 zum Spiegel eines realen Konflikts zwischen arm und reich, der in La Passion durch Arbeiterinnen ausgetragen wird.” 5
Elementar ist in der Aufführungspraxis der Tableaux Vivants die Aufforderung zu spielerischer Nachahmung. Nachahmung als fundamentale anthropologische Geste sozialen Handelns und Lernens spielt bereits um 1890 in den Schriften des französischen Sozialpsychologen Gabriel Tarde eine zentrale Rolle. Für ihn ist Gesellschaft Nachahmung. Visionär können seine Beobachtungen und Schlüsse genannt werden, wenn man die von ihm beobachteten Entwicklungen urbaner Gesellschaften unter dem ständigen Einfluss von auch nachts beleuchteten Schaufenstern und frühen Massenmedien im Hinblick auf die Suche jedes Einzelnen nach Konformität in Fragen der Mode, Gesten und des Jargons betrachtet und sie auf unsere postdigitalen Zeiten überträgt. Unter dem steten Agens der Kraft einer sozialen Ansteckung, die Tarde Magnetisierung nennt, werden heute Menschen aufgrund bildstarker Medieneinflüsse via elektronischer Schaufenster, den Smartphones, mit Fakenews, Beautyblogs, Chatbots, sozialen Netzwerken und Telegram-Gruppen zu Somnambulen gemacht, zu fremdgesteuerten Nachahmern, deren fragwürdige, zwanghafte, synchronisierte Handlungen in der „intimsten und dunkelsten Seite der Psychologie” 6 verankert sind.
„Die Nachahmung ist so sehr die innerste Seele des sozialen Lebens, dass beim zivilisierten Menschen die dazu notwendige Fähigkeit und Geschicklichkeit schneller wächst als die Anzahl und Komplexität neuer Erfindungen. Sie stiftet übrigens immer vollkommenere Ähnlichkeiten.” 7
Nichts Anderes liegt der Erfindung der Künstlichen Intelligenz als mächtigste Wirkkraft und Affirmation zugrunde: Sie ahmt menschliches Verhalten, menschliches Urteilen nach und wird von ihren Funktionären und Funktionärinnen letztlich zur Nachahmung von Nachahmung programmiert. Kann die Reflexion über Fragen nach Differenzen zwischen Realitäten und Illusionen bei Tableaux Vivants durchaus spielerisch genannt werden, wird es beim kritischen Blick in den neuen, digitalen Spiegel der Künstlichen Intelligenz hingegen schnell sehr ernst, weil KI uns besser nachahmt als uns lieb sein kann und wir an einer besseren Kopie von uns selbst zu scheitern drohen. Chronoferenzen lassen sich auch in die Zukunft denken. Was uns Menschen dort bevorstehen könnte, deuten viele der Arbeiten aus der Ausstellung Post Digital Work an, indem sie von den bereits dystopischen Realitäten unserer Gegenwart erzählen.
In den Tableaux Vivants gehen Menschen performativ eine Verbindung mit einem Kunstwerk und einer Geschichte ein, die ihnen eine neue Bedeutungsebene ihrer gemeinsamen Handlungen aufzeigen kann. Affekte und Leidenschaften, Überzeugungen und Begehren, Erfindung und Nachahmung werden dabei in eine unbewegliche Mitte gelenkt, wo wir alles sehen können. Die kurzen Regietexte, die den drei Tableaux Vivants zugrunde liegen, nehmen jeweils einen formalen Aspekt der Ausstellung Post Digital Work in ihren Fokus. Die eigentliche Arbeit wird jedoch von den Betrachtern und Betrachterinnen der Tableaux zu leisten sein, die sich zur individuellen Entzifferung und Auflösung der Bilderrätsel eingeladen fühlen dürfen.

1Alessandro Vezzosi
2Ein Begriff von Achim Landwehr. Chronoferenzen sind die Beziehungen, die der Mensch mittels seiner Vorstellung und der Narratisierungsfähigkeit seines Bewusstseins zu abwesenden Zeiten, also Vergangenheit und Zukunft herstellen kann.
3Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit, S. 157
4Anna Zika, Bildkulturen I, VDG, S. 89.
5Anna Zika, Bildkulturen I, VDG, S. 98.
6Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, Suhrkamp, S. 108
7Ebd. S. 207
Drei zentrale Tableaux Vivants der Filmemacher bilden den visuellen Kern der Ausstellung. Es handelt sich um Nachstellungen ikonischer Werke der Kunst- und Fotogeschichte, die symbolisch verschiedene Segmente des heutigen Arbeitsmarktes repräsentieren.
Das erste Tableau zeigt dreizehn Protagonisten aus dem Bereich der Büroarbeit, die sich zu einem letzten Treffen versammelt haben. Sie stehen für Wissens- und Verwaltungsarbeit – Tätigkeiten, die besonders stark von digitaler Effizienzsteigerung und Automatisierung betroffen sind. Die Filme thematisieren Überforderung, die Auflösung von Grenzen, Burnout, Zukunftsängste und das Gefühl der Ersetzbarkeit angesichts selbstlernender Maschinen.
Das zweite Bild zitiert das berühmte „Mittagessen auf einem Wolkenkratzer“ und zeigt acht VR-Arbeiter in ihrer Mittagspause – ein Symbol für „Arbeit im digitalen Zeitalter“. Auch hier wird körperliche Arbeit zunehmend durch Automatisierung, Virtualisierung und Datenerfassung transformiert. Ein Film thematisiert die Stimmextraktion – den Diebstahl der menschlichen Stimme, ihre digitale Reproduktion und Nutzung durch KI in einem ungleichen, potenziell kriminellen Wettbewerb um Authentizität und Kontrolle. Ein weiteres filmisches Thema ist die Fortsetzung der kapitalistischen Wertlogik im Bereich der Videospiele: „Playbourers“ – Menschen, die in ihrer Freizeit freiwillig Gold abbauen oder digitale Farmen in Simulationen betreiben – verwischen die Grenzen zwischen Spiel, Arbeit und wirtschaftlicher Ausbeutung.
Das dritte Tableau widmet sich dem Thema der „Pink Collar Work“ – jenen unsichtbaren Berufen am Rande des Arbeitsmarktes: Pflegearbeit, unbezahlte Praktika, Unterhaltung, Bildungs- und emotionale Dienstleistungen, oft von Frauen geleistet und oft unzureichend anerkannt. Der Begriff der Arbeit selbst wird hier kritisch hinterfragt: Wer oder was gilt als arbeitend? Menschen, Tiere, Pflanzen – sie alle werden im neoliberalen System funktionalisiert, ohne dass ihr Beitrag sichtbar gemacht oder angemessen vergütet wird.
Letztlich überschattet die diffuse Gestalt der sogenannten künstlichen Intelligenz alles und wirft eine grundlegende Frage auf: Was bleibt vom Menschen als arbeitendes, kreatives und fühlendes Wesen in einer zunehmend automatisierten Welt?
Die Ausstellung bietet ein kaleidoskopisches Panorama aus Bildern, Fakten, Metaphern und Geschichten. Sie macht die unsichtbaren, übersehenen, aber dennoch essenziellen Aspekte der postdigitalen Arbeit sichtbar – und fordert uns damit auf, eine neue Perspektive auf Werte, Arbeit und die Zukunft einzunehmen.
Three central group photographs of the filmmakers form the visual core of the exhibition. These are reenactments of iconic works from art and photography history that symbolically represent different segments of today’s labor market.
The first tableau shows thirteen protagonists from the realm of „White Collar Work,“ gathered for a final meeting. They represent knowledge and administrative work—activities that are particularly affected by digital efficiency enhancement and automation. The films address overwhelm, boundary dissolution, burnout, anxieties about the future, and feelings of replaceability in the face of self-learning machines.
English:
The second image quotes the famous „Lunch atop a Skyscraper“ and shows eight VR workers during lunch break—a symbol for „Blue Collar Work“ in the digital age. Here too, physical labor is increasingly transformed through automation, virtualization, and datafication. One film addresses Voice Extraction—the theft of a human voice, its digital reproduction and use by AI in an unequal, potentially criminal competition for authenticity and control. Another cinematic theme is the continuation of capitalist valorization logic in the realm of gaming: Playbourers—people who voluntarily mine gold or manage digital farms in simulations during their free time—blur the boundaries between play, work, and economic exploitation.
The third tableau is dedicated to the theme of Pink Collar Work—those invisible professions operating at the margins of the labor market: care work, unpaid internships, entertainment, educational and emotional services, often performed by women, often inadequately recognized. The concept of work itself is critically negotiated here: Who or what counts as working? Humans, animals, plants—they are all functionalized in the neoliberal system without their contribution being made visible or fairly compensated.
Finally, the diffuse figure of so-called artificial intelligence haunts everything, raising a fundamental question: What remains of humans as working, creative, and feeling beings in an increasingly automated world?
The exhibition offers a kaleidoscopic panorama of images, facts, metaphors, and stories. It makes visible the invisible, overlooked, yet essential aspects of Post-Digital Work—thereby challenging us to adopt a new perspective on value, work, and the future.