Still life with apples, meat and plastic bags

© Marcus Wildelau, 2021
Trommelscans, 4×5″ Negativfilm.

EDITORIAL KOMPAKT

Ludwig Wittgenstein war es egal, was er aß, „solang es nur immer das Gleiche ist“.

Die allermeisten Menschen erkennen im Ritual einer individuellen, persönlichen Auswahl von Nahrung, eingewickelt und verborgen in Plastik, Pappe und Blech, kaum Aspekte kultureller Versäumnisse, wohl eher moderne Errungenschaften des Welthandels, etwa in Gestalt von Äpfeln aus Argentinien im zentraleuropäischen Frühjahr. Wer käme schon auf die Idee, nicht mit lustbetontem Fresstrieb, sondern stattdessen mithilfe seiner Vernunft einzukaufen, die den ökologischen Fußabdruck solcher Äpfel als bedenklich einstufen und sie liegenlassen würde?

Das Auswählen von Nahrungsmitteln ist bei uns Menschen ein kategorischer Gewohnheitsakt, der bei vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen lebenslang keine alternativen Szenarien zulässt. Die Macht der Gewohnheit erhält Unterstützung von individuellen, sozioemotionalen, biografischen Erinnerungskomplexen, die die multisensuale Verbindung zwischen Mensch und Mahl ein für alle Mal zu einem starren Dispositiv zementieren können. Der Mensch entdeckt gern das, was er bereits kennt oder unter positiven Begleiterscheinungen kennengelernt hat.

Derartige Phänomene sind Forschungsgegenstände der Gastrosophie, einer Philosophie des Essens, die sämtliche mikro- und makrokosmischen Zusammenhänge und Auswirkungen des Essens und der damit verbundenen Nahrungsmittelversorgung im Ganzen zu untersuchen pflegt.

Die gesellschaftlichen und ökologischen (von oikos, der Herd) Konflikte, die hierzulande auf überwiegend agrarkapitalistischen Gepflogenheiten einer zerstörerischen Land- und Viehwirtschaft basieren, fördern einen bisher von Verbrauchern und Verbraucherinnen gerne ignorierten Aspekt verdrängter Moral und Verantwortung zu Tage, der seine die Bildende Kunst betreffenden Vorgänger in verborgenen Allegorien barocker Malereien findet, wie etwa im christlichen Appell der Kardinaltugend Temperantia mit dem Sinnspruch Serva Modum: Wahre das Maß.

Unsere modernen, alimentären Bräuche erschöpfen und zerstören zunehmend natürliche Ressourcen, Nahrungsketten und Artenvielfalt, während die meisten Konsumenten und Konsumentinnen die von ihnen täglich geschaffenen „Ready Mades” auf dem Warenband an der Supermarktkasse damit nicht in Zusammenhang bringen.

Marcus Wildelau

© Marcus Wildelau, 2021
Flachbettscans, 4×5″ abgelaufenes Polaroidmaterial.

Editorial komplex

„Die Auswahl der in Still Life With Apples, Meat And Plastic Bags dargestellten Objekte beruht auf Dokumentarfotos von tatsächlichen Einkäufen, die von unterschiedlichen Kunden und Kundinnen getätigt und auf dem Warenband an der Kasse abgelegt wurden. Die zufällige Positionierung der Artikel auf dem Warenband wurde für die Fotoinszenierungen 1:1 übernommen. Einige Kunden und Kundinnen warfen die Artikel achtlos aufs Band, so als würden sie ihnen gegenüber eine große Gleichgültigkeit empfinden.“

Der Supermarkt, eine moderne Einrichtung des 20. Jahrhunderts nach nordamerikanischem Vorbild, ist ein geradezu utopischer, bunter Ort, dessen Warenangebot überwiegend den Gesichtssinn seiner Besucherinnen und Besucher attackiert. In einem Zeitalter ungehemmter Bilderflut und drohender sukzessiver Verarmung unseres übrigen Sensoriums regieren die Fernsinne. Wir schmecken quasi mit den Augen und erkennen beim Einkauf zunächst oft nur ein Bild der Nahrung oder Symbole auf Verpackungen. Von Natur aus ängstlich, sind Menschen in punkto Nahrung sehr wählerisch. Selbst wenn wir uns für vergleichsweise ungesunde Billignahrung entscheiden, spielt der Vergleich des Äußeren einer Ware mit unserer Vorstellung von ihr eine zentrale Rolle: Sind das wohl die originalen Sahnebonbons aus der Werbung? Sind das etwa Flecken auf dem Gemüse? Ist dieser Yoghurt rosa genug für Erdbeere?

Menschen lieben nichts so sehr wie Muster und Wiederholungen, weil sie Orientierung bieten sowie Geborgenheit geben und die Welt weniger komplex und beherrschbarer machen. Wissen wir erst, wie der Inhalt einer Verpackung mit wiedererkennbarem Design schmeckt, können wir uns darauf verlassen, diese Geschmackserfahrung dank industriell normierter Rezeptur dauerhaft rekapitulieren zu können. Fremdem gegenüber sind wir mehr als misstrauisch, Neuem erst recht. Was außerdem nicht von einer Kunststoffhülle umschlossen wird, die unter Schutzatmosphäre verschweißt wurde, bereitet vielen von uns Unbehagen.

„Wir prüfen die Nahrung nicht kritisch vor jedem Kauf mittels einer Geschmacksprobe wie auf einem mittelalterlichen Bauernmarkt, sondern wir sind bereit, die Hypothese der Bekömmlichkeit bis zur gegenteiligen Erfahrung gelten zu lassen, weil wir der Nahrungsmitteltechnologie mit ihren Reinlichkeitsversprechen und der allgegenwärtigen Tiefkühltechnik vertrauen.“

Ludwig Wittgenstein war es egal, was er aß, „solang es nur immer das gleiche ist“. Die Auswahl von Nahrungsmitteln ist bei uns Menschen ein kategorischer Gewohnheitsakt, der bei vielen Zeitgenossen auf Lebenszeit keine alternativen Szenarien zulässt. Die Macht der Gewohnheit erhält Unterstützung von individuellen, sozioemotionalen, biografischen Erinnerungskomplexen, die die multisensuale Verbindung zwischen Mensch und Mahl ein für alle Mal zu einem starren Dispositiv zementieren können. Der Mensch entdeckt gern das, was er bereits kennt oder unter positiven Begleiterscheinungen kennen gelernt hat. Den Erfolg dieser Prägungen hat das moderne Marketing natürlich längst erkannt und versucht, Menschen mit multisensualer Markenbildung, dem sog. Emotional Branding und Brand Sense, tiefer an Produkte zu binden. Wir sollen uns zuhause fühlen, eine „Heimatkonnotation“ erleben und immer wieder zum Produkt zurückkehren wie ein Lachs zum Laichgrund.

Wenden wir uns Bildern von Nahrung zu, dann hat jeder sofort bestimmte Vorstellungen. Vielleicht denken die meisten in diesem Zusammenhang nicht zuallererst an Mahlzeitstillleben aus dem frühen 17. Jahrhundert. Menschen sind unbewusst eher in ihrem Alltag verortet, in dem Routinen und funktionale Handlungen der Gegenwart den Vorrang gegenüber einer historischen Auseinandersetzung mit der Ästhetik der uns vertrauten Lebenswelten einräumt. Ein Supermarkt ist schließlich keine Kunstausstellung. Oder vielleicht doch?

Im 17. Jahrhundert erlebte man den ästhetischen Reiz von Nahrungsmitteln in enger Verknüpfung mit ihrer gastronomischen (magenkundlichen) Zubereitung. Farbbeschreibungen, etwa „Forelle blau“ oder „Blutig rot“ hatten ihren Ursprung in den Beobachtungen am Herd und waren das Ergebnis bestimmter Garmethoden. Das Visuelle unterstand und bestätigte gustatorische Qualitäten, indem es ihre Merkmale hervorhob und bestätigte. Stimmige Bilder von Nahrung waren im besten Falle zugleich Zeugnisse guter Küche sowie wirklicher Frische und trugen ihren Teil zur Definition des guten Geschmacks bei. Durch die schlichte Betrachtung und Beobachtung einfacher Lebensmittelmotive und Szenen in Küche und Speisekammer lenkten etwa flämische Maler des ausgehenden 16. Jahrhunderts den Blick der Betrachter auf etwas Natürliches, Echtes, Wahres, Einfaches. Die Hinwendung zu solch scheinbar Profanem war an sich bereits eine Revolution, die poetische und rätselhafte, symbolische Anordnung der Gegenstände und Köstlichkeiten, die darin enthaltenen Allegorien, die zu entschlüsseln Aufgabe des Betrachters war und die maltechnisch realistische Umsetzung schließlich bedingten die Erfindung einer neuen Bildwirklichkeit und die Formung eines neuen Genres der Mahlzeitstillleben.

Dieser Blick auf das Lebensmittel als kontemplatives Motiv wird in der Fotostrecke Still Life With Apples, Meat And Plastic Bags formal rekapituliert. Wir sehen eine von Nordlicht beleuchtete Atelierszene, wo wir das wiedererkennen, was wir so gut zu kennen glauben. Das Wesen der Nahrung, von der wir meist nur ihre Verpackung sehen, ist allerdings in höchstem Grade unnatürlich.

„Die Bilder der Supermarktartikel thematisieren unsere Beziehung zu Nahrung.“

Die tiefere Bedeutung eines Mahlzeitstilllebens des frühen 17. Jahrhunderts erschließt sich dem Betrachter über die allegorische Motivverschlüsselung und die religiös konnotierten Bildsymbole. Der protestantische und vor allem calvinistische Ikonoklasmus des 15. und 16. Jahrhunderts war in den Niederlanden ein Wegbereiter für die Verwendung weniger ostentativer Motive in Gemälden, die aber eine verborgene religiöse Bedeutung hatten. Brot stand etwa für den Leib Christi, Wein für sein Blut, womit im Mahlzeitstillleben die Eucharistie symbolisiert wurde, die als urchristliches Ritual selbst eine symbolische Einverleibung Christi in Brotgestalt (bzw. im Brot verborgen) darstellt.

Auch das häufig aufgegriffene Vanitasthema, das süße, irdische Verlockungen in Gestalt von Pfirsichen, Konfekten oder Gebäck der Allgegenwart des Todes und der Vergänglichkeit gegenüber stellte, darf als Allegorie auf die Sterblichkeit und als Memento Mori verstanden werden. Der Künstler oder die Künstlerin konnte so in den Banketjes diskret auf einer moralischen Bedeutungsebene kommunizieren, die den Werken stets etwas Geheimnisvolles verleiht. Die Inszenierungen von mannigfaltigen, oft exotischen Nahrungsmitteln, die pittoreske Zeugen niederländischen Reichtums infolge eines exorbitanten, kolonialen Überseehandels waren, wurden in den Mahlzeitstillleben nicht nur stolz zur Schau gestellt, sondern ebenso als appellhafte Allegorie auf die Tugend der Mäßigung (Serva Modum) verstanden: Eine geschälte Zitrone neben süßem Naschwerk konnte diese Botschaft beinhalten. Solche Rätsel wurden von einem Publikum entziffert, das zu lesen wissen musste.

Hatte Jean Paul Sartre in den 1970er Jahren noch rauchend behauptet, dass jedes Nahrungsmittel ein Symbol sei, ist das Bild der Ware heutzutage sein eigenes Symbol geworden. Eine moderne, aufgeklärte liberale Leistungsgesellschaft will im alltäglichen Bilde der Allgegenwart eines verschwenderischen Luxus‘ mit komplexem Warensortiment keine zeitraubend ausfindig zu machenden versteckten Hinweise auf Sünde, Maßlosigkeit oder Verschwendung entdecken, sondern höchstens prokonsumistischen Fortschritt oder bestenfalls die mit Preisetikett ausgezeichnete Ware selbst. Auch in der Gattung der Mahlzeitstillleben entwickelten sich etwa mit Küchenstücken oder Bodegónes Blicke auf Nahrung, die eine ursprünglich moralisierende Diktion gegen eine stilsichere Dokumentation bürgerlichen Reichtums oder Darstellung schlichter Schönheit eintauschten.

Wesentlicher und phänomenaler Unterschied im Vergleich zu Nahrungsdarstellungen in der Genremalerei zu barocker Zeit ist heute die Zunahme von Verpackungen bei gleichzeitiger Abwesenheit des eigentlich Bezeichneten, das vom Bezeichnenden visuell vertreten wird. In der Fotoreihe Still Life With Apples, Meat And Plastic Bags werden nicht nur Nahrungsmittel abgebildet, sondern ebenso Verpackungen mit Abbildungen idealisierter Nahrung, die hübsch gestaltet auf die von ihnen umschlossenen, unsichtbaren industriellen Derivate verweisen.

„Diese Abbildungen von Abbildungen versprechen auch bei mehrmaliger Verkapselung am Ende stets ein Bild.“

Infolge unserer kontroversen kulturellen, abendländischen Geschichte bezüglich der Rezeption von Bildern, die immer auch in Konkurrenz zum Abgebildeten, zur Natur standen, verwundert es nicht, wenn der bildgewordenen Idee der Ware (eidola), die ihrem Image (imago) entspricht, gegenüber ihrer wahren Erscheinung bei der Produktpräsentation stets der Vorrang gegeben wird.

Die einst aus dem kulinarischen Milieu stammende Distinktion von Gleichem und Ungleichem (nichts Anderes beschäftigt den Geschmackssinn) wird heutzutage beim Einkauf im Supermarkt vornehmlich visuell geleistet. Farben und Abbildungen auf Verpackungen, die den vermeintlichen Inhalt darstellen, sind häufig Ideen einer verniedlichten Welt, die einer primitiven Vorstellung des Schlaraffenlands gleichen: Vieh, das sich anthropomorph lächelnd und für die Mast dankbar zur Schlachtbank führen lässt, Kühe mit strahlenden Zähnen und Sonnenbrille oder Süßigkeiten auf Beinen. Die Bilder und Serviervorschläge auf den stabilen Kunststoffhüllen, die viele hundert Jahre länger haltbar sind als ihr vergänglicher Inhalt, füttern infantile Imaginationen von scheinbar lebendigen Produkten in steter, repetitiver Taktung.

Mehrere quadratische Tafeln Schokolade in farbenprächtigen, verführerischen Verpackungen, gelb-rote, knackige Äpfel, brustwarzengroße Trauben, mehrfach von durchsichtiger Plastikfolie umschlossene Minischokoladentafeln und 1,9 Kilogramm Schweinefleisch liegen nebeneinander auf dem Kassenband eines Supermarktes in Nordrheinwestfalen, Deutschland. Nach frühneuzeitlicher, christlicher Bildsymbolik werden hier Wolllust, Gier und Maßlosigkeit thematisiert. Ist dieser Einkauf etwa eine unfreiwillige Selbstoffenbarung einer armen Sünderin, die keine Kontrolle über ihre Genuss- und Fleischeslust hat? Obwohl sich Readymades oder Objet trouvés wie diese millionenfach auf Kassenbändern wiederholen, werden sie, wie in diesem Fall, von der „Künstlerin“ selbst weder als solche erkannt noch kritisch im Prozess der Werkschöpfung betrachtet, da sie in größter Absichtslosigkeit und unschuldiger Unbewusstheit entstanden. Es herrscht gemeinhin nicht der semiologische Rahmen oder die kollektive Verabredung, dass es sich bei den auf dem Kassenband abgelegten Waren um ein Bild einer Kunstausstellung handeln darf. Was verrät diese individuelle, bizarre Sammlung von „Trophäen”, die ihrerseits aus einer Vielzahl von industriell gefertigten, künstlichen Zutaten bestehen, über uns?

Wir finden im Kauf und im Gebrauch der Nahrungsmittel stets uns selbst. Die Fähigkeit und der Wunsch zur Unterscheidung von Symbolen, Farben, Formen oder Zeichen, die eine bestimmte Nahrung, ein zu erwartendes Geschmackserlebnis oder einen Hersteller repräsentieren, sind Ausprägungen unseres Bedürfnisses nach Handlungen, die unsere Identität, etymologisch stammend von Idem – derselbe, bestätigen. Unser systemisches Selbstverständnis ist ganz überwiegend unbewusst und nicht auf der Suche nach einer schmerzhaften Konfrontation mit der Realität und auch nicht nach einem durch Einsicht motivierten initiativen Ausweg aus einer überwiegend naturfernen Nahrungsmittelversorgung unserer Gegenwart, sondern auf der Suche nach Widerspruchslosigkeit; und insbesondere in Deutschland nach einem niedrigen Preis für das, was es zu essen und zu trinken gilt.

Unreife Bananen in einem Hemdchenbeutel mit Preisaufkleber werden im Bild in puncto Nachhaltigkeit möglicherweise zu einem gesellschaftskritischen Medienereignis, weil die feste Schale der Bananen vom Kunden oder von der Kundin offensichtlich nicht als ausreichende, natürliche Verpackung erkannt wurde. Gilt es schließlich zunächst, die Bananen unbeschadet in die sichere Wohnung zu tragen, wo sie ungestört verzehrt werden können. Die Geste, den völlig überflüssigen Hemdchenbeutel als Verstärkung oder einfach nur so zu nutzen, zeigt, dass beim Einkauf nicht die Vernunft regiert, sondern etwas Anderes. Der Kunde oder die Kundin offenbart mit dieser Geste Gewohnheiten der eigenen „Einkaufskultur“ und die Wertschätzung für die Errungenschaft der durchsichtigen Tasche, die vor allem in südosteuropäischen Ländern ein allgemein anerkanntes Statussymbol für die freie Marktwirtschaft ist. Kundinnen und Kunden tragen mit ihr nicht nur ihre Einkäufe davon, sondern durch die stete Nutzung auch zu ihrem Erhalt bei.

Die allermeisten Menschen erkennen im Ritual einer individuellen, persönlichen Auswahl von Nahrung, eingewickelt und verborgen in Plastik, Pappe und Blech, kein kulturelles Versäumnis wohl aber eine gesunde Errungenschaft des Welthandels, etwa in Äpfeln aus Argentinien im Frühjahr. Wir akzeptieren darüberhinaus Ideen aus der Nahrungsmittelergänzungsindustrie, die uns glauben zu machen versucht, unsere Körper bräuchten die chemischen Cocktails und Brausetabletten aus modernen Laboren, um sie mit Stoffen zu versorgen, die uns sonst fehlen würden. Wer kommt von selbst auf die Idee, nicht mit lustbetontem Fresstrieb, sondern mithilfe seiner Einsicht einzukaufen, die den ökologischen Fußabdruck von Äpfeln aus Südamerika als bedenklich einstufen und sie liegenlassen würde? Diese und ähnliche Phänomene sind Forschungsgegenstände der Gastrosophie, einer Philosophie des Essens, die sämtliche mikro- und makrokosmischen Auswirkungen und Zusammenhänge des Essens und der damit verbundenen Nahrungsmittelversorgung im Ganzen zu untersuchen pflegt. Die gesellschaftlichen und ökologischen (von oikos, der Herd als Zentrum einer Haus- und Lebensgemeinschaft) Konflikte, die auf überwiegend agrarkapitalistischen Gepflogenheiten unserer modernen Nahrungsmittelversorgung basieren, fördern einen bisher häufig vernachlässigten Aspekt von Moral und Verantwortung zu Tage. Unsere alimentären Bräuche erschöpfen und zerstören zunehmend natürliche Ressourcen, Nahrungsketten und Artenvielfalt. Diesen Missstand als Folge fehlender moralischer Verantwortung der Verbraucherinnen und Verbraucher aufzuzeigen, ist eine der Aufgaben der noch jungen philosophischen Disziplin der Gastrosophie.

„Konventionell hergestellte Nahrungsmittel sind heute häufig Teil von industriellen Prozessen, deren Ziel nicht individuelle Bekömmlichkeit, sondern Gewinnmaximierung bei gleichzeitiger Vereinfachung der Weiterverarbeitung ist.“

So ist beim täglich Brot etwa glutenhaltiges Getreide die Voraussetzung für das effektive Funktionieren genormter Backprozesse in Großbäckereien, die kleinere Bäckereien mit Fertigbrotteigen beliefern, die nur noch aufgebacken werden müssen. Gluten fungiert als Klebstoff im Teig. Moderner Weizen kann im Vergleich zu Sorten aus den vergangenen Jahrzehnten Gluten aufweisen, das um ein Vielfaches klebriger ist als in traditionellen Sorten. Gluten wird als Klebstoff vom Körper keinesfalls benötigt, aber von der Industrie. Zwar sieht modernes Brot noch genauso aus wie früher, aber es hat längst nicht für alle die gleiche Bekömmlichkeit. Heutzutage ist die gesellschaftliche und politische Wertschätzung des agrarwirtschaftlichen Ertragsreichtums und der Effektivität einer lukrativen Weiterverarbeitung von Getreide oft größer als sein Nutzen für die gesunde Ernährung des Menschen.

Wie aber können Geschmacksurteile sich lediglich auf das unmittelbar Verzehrte und nicht auch auf dahinter liegende industrielle Nahrungsmittelherstellungsprozesse wie etwa den rücksichtslosen und ausbeuterischen Umgang mit Tieren, den verheerenden Einsatz von Pestiziden in der um ein grünes Image bemühten konventionellen Landwirtschaft, den Einsatz von Geschmacksverstärkern, Süß- und Farbstoffen und den davon ausgehenden Gefahren für den menschlichen Organismus sowie die Konstitution der von diesen Faktoren geprägten globalen „Tischgesellschaft“ beziehen? Wie also kann gustatorische Wahrnehmung, wie kann Ästhetik losgelöst von Bekömmlichkeit, Nachhaltigkeit, Ökologie, Fairness und Natürlichkeit bewertet werden? Das geht dann besonders gut, wenn Informationen, die zu Kritik anregen, einfach ignoriert werden. Und selbst wenn ein kritischer Impuls aus dem Großhirn sich bis zur nach dem ökologisch bedenklichen Produkt greifenden Hand vorgearbeitet haben sollte, landet es am Ende doch wieder im Einkaufswagen. Kognitive Dissonanz nennen die Sozialpsychologen dieses Phänomen. Obwohl wir es eigentlich besser wissen sollten, übergehen wir Zweifel an unserem Handeln und tun es trotzdem: die anderen machen es ja schließlich auch. Tatsächlich aber findet gesamtgesellschaftlich ebenso ein großes Umdenken statt. Der Megatrend Ernährung und Gesundheit schafft die Voraussetzungen für die Entstehung eines robusteren Kritikbewusstsein für alternative Ernährung, indem etwa Fleisch- und Futtermittelproduktionsmethoden über Etiketten demaskiert werden.

Still Life With Apples, Meat And Plastic Bags zeigt, wie stark die Sehnsucht der Menschen nach Idealität in der Nahrungsversorgung verkörpert ist und wie sehr die Menschen in Natürlichkeit ihre Gegnerin sehen. Als Bildmotiv wirkt die Präsentation von Supermarktartikeln in einer malerischen, fast romantischen Inszenierung ironisch und absurd. Als Zitat eines Stilllebens schleicht sich Alltagsnahrung in ihrer funktionalen, künstlichen Produkthülle als Bildsujet in unsere Wahrnehmung und will auffallen. Diese Neuentdeckung, dieses Sehen mit den Augen eines imaginierten, künftigen, vielleicht bewussteren Kunden, der kopfschüttelnd auf Zeiten konventioneller Nahrungsmittelproduktion des 21. Jahrhunderts zurückblickt, kann genauso gut heute von uns geleistet werden. Ernährung ist nicht nur das sich Einverleiben von Totem um jeden rabattierten Preis zur unbedingten conservatio sui. Ernährung war und ist stets ein ästhetischer Akt, der uns unsere Verbindung und unsere Geschichte mit der Welt, mit der Umwelt zeigt aber eben vor allem auch unsere tiefe Trennung von ihr. Und es geht bei Still Life With Apples, Meat And Plastic Bags auch gar nicht so sehr um gesunde Ernährung, sondern um die Beschaffenheit unserer Identität in Verbindung mit Ernährung sowie um die Ästhetik der Beziehung zu unserer selbst geschaffenen Umgebung voller künstlicher Fresswaren. Unser existentieller Konflikt mit der Natur wird auch in unseren Ernährungsgewohnheiten sichtbar und zeigt, dass Künstlichkeit die wahre Natur unserer Spezies ist, die sich selbst einst den Namen gab: Homo sapiens sapiens, der kluge und schmeckende Mensch.